Montag, 22. November 2010

Schaffenskraft

Jeden 13. Sonntag im Jahr (ungefähr war es so), sicher drei Mal, verfasste er Post. Er war nicht der grosse Schreiber, er war nicht der Mann für die grossen literarischen Worte. Diese liess er sich lieber vorformulieren, um dann selber lediglich das syntaktische Meisterwerk gutzuheissen, mit einer knappen schwarz-oder-weiss Antwort zu bekräftigen oder dem poetischen Gemälde mit seiner Unterschrift das Gewicht anzuverleiben, das solche Worte in seinen Augen verdient hatte.

Es fiel im eigentlich nie schwer solche Briefe zu schreiben. Und mit jedem Brief, den er so versenden konnte fühlte er sich besser, fühlte er sich in seiner sozialen Umwelt akzeptiert, auf diese Weise nahm er am gesellschaftlichen Leben teil. Er brauchte keine Briefmarkensammlung, er musste nie jemanden vor den Kopf stossen mit unfrankierten Couverts und trotzdem schrieb er sicher drei mal im Jahr einen Brief.

Der Stift, meist mit Daumen und Zeigfinder festgehalten, auf dem Mittelfiner aufliegend, glitt nur so über das umweltschonende Papier. Auch dies machte ihn gefühlsmässig zu einem besseren Menschen. Er brauchte kein teures Briefpapier, seine Worte hatten auch so gewicht, sogar noch viel mehr. So empfand er es jedenfalls.

Für ihn war diese Art Briefe zu schreiben eher eine Art 'Malen nach Zahlen'. Im Niveau-Vergleich fiel im jedenfalls kein Unterschied auf. So einfach fiel im die Sache. Und wenn die Schuppen auf seinen Augen der Sache nicht immer gleich taten, wenn es um den tiefgründigen Aspekt seiner Schreibkunst ging, so konnte er sich doch getrost immer noch zu gute halten, das er formell jeden noch so kleinen Passus des Briefverkehrknigges einhielt.

Er war kein Abschreiber, ein Nachplapperer wohl, und er schwamm immer öfters mit dem dem Strom. Schliesslich war er durch sein Hobby integriert und den gelegentlichen Briefwechsel so zu zelebrieren, machte ihn doch auch zu einem Menschen, der nicht der Mehrheit angehörte.

Seine literarische Schaffenskraft schuf, sowohl Aus-Sichten, wie auch gelgentlichen Ab-Riss, kurz und pregnant, über syntaktisches Geplänkel, das er ja oft selber nicht ganz verstand. Ein-Sichten kamen dennoch meistens zu kurz oder fehlten gänzlich. Sie mussten auch nicht vorhanden sein. Viele Menschen verstanden nämlich seine Worte, also können sie ja nicht falsch sein, fand er. Und schliesslich ging es um die Sache an sich, wie bei Geschenken, fand er, so auch bei Briefen: Schenken soll Freude bereiten, nicht der materielle Wert.

Montag, 15. November 2010

Fluchtort

Alles war rabenschwarz. Alles. Er sah somit ins Nichts oder zumindest wusste er nicht genau, wo er hinsah, denn so wie er sich auch drehte und wendete, seinen Kopf von links nach rechts neigte, nichts war zu sehen. Nichts, ausser dieser dunklen Wolke vom rabenschwarzen Nichts, dass wie Mauern von oben, von den Seiten und sogar von unte auf ihn eindrückte, ihn gefühlsmässig schier zu erdrücken vermochte. Ihm war unbehaglich zu Mute. Dennoch stand er eigentlicht immer noch, obwohl ja nirgends etwas zu sein schien.

Der Tag hatte eigentlich völlig normal begonnen. Aufstehen, anziehen, Kaffee trinken, zur Arbeit fahren mit der Strassenbahn, die wie immer völlig überfüllt gewesen ist, was ihn aber gar nicht mehr aufzuregen schien, denn dies konnte ihn nicht mehr beirren, hatte er ja ein Schlupfloch gefunden aus dieser nervenaufreibenden und stressigen Masse, hatte er doch sein eigenes Paralleluniversum erschaffen, ist er doch sozusagen dem kleinen weissen Hasen durch die kleine Tür gefolgt, durch den Spiegel gegangen, nur um solchen Situationen zu enteilen. Am Anfang, war er vorsichtig damit, versuchte er es nur schrittweise, klärte er zuerst alles ab, was schiefgehen könnte, sicherte er ab, was auf der 'anderen Seite', wie er sie nannte, geschehen könnte. Je länger aber er davon wusste, wie besser er seine Fähigkeit beherrschte, desto mutiger, waghalsiger und leider, erkennt man die mögliche Auswergslosigkeit seiner akutellen Situation, auch zu unbekümmert.

Alles begann damals, als er sich in Ruhe, in endlicher Ruhe nach einer endlosscheinend stressiger Zeit, auf seinem Balkon sonnte, sich diesen Aufgenblick der Einsamkeit und Flucht aus dem Alltag einfach aufzwingen musste, als er so da lag und ein Buch las. Das Telephon klingelte plötzlich, sein Blackberry begann zu pipsen und der Laptop hörte man durchs Fenster nach neu-angekommenen Nachrichten lechzen. Ihm war es damals zu viel und anstatt das Buch wegzulegen und sich wieder einem Alltag zu stellen, anstatt sich zu erheben und dem Haufen der vor ihm lag Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten, erhob er sein Buch, riss seine Augen weit auf und versuchte sich tief in den Zeilen zu vergraben. Als wollte er sich verstecken, als wollte er um die Buchstaben schlendern und so das Echo der Zeit, die um ihn herum tobte und raste in den vielen Windungen und Wendungen des Textes abhängen. Und da, urplötzlich, war es geschehen. Er stand mitten in seinem Text.

Zuerst ungläubig rieb er sich die Augen, sammelte sich und versuchte zu verstehen was in diesem Moment damals geschehen war. Er verstand es bis zum aktuellen Augenblick nicht ganz, vielleicht besiegelte dies nun das mögliche Schicksal. Sein gegenwärtiges Schicksal. Er begriff aber schnell, dass er eine Fähigkeit hatte, die er zu nutzen wusste. In den nächsten Tagen, Wochen und Jahren begann er Versuche zu machen, Rückmeldungen einzuholen, auszutesten und seine Fähigkeit zu erweitern. So stellte er bald fest, dass er nicht nur in diesem Buch umherwirbeln konnte, dass er sich nicht nur zwischen diesen beiden harten Buchdeckeln verstecken vermochte, sondern dass er den selben Fluchtweg auch in Zeitschriften, Zeitungen, auch in wisschenschaftlichen Artiklen, was ihm bei seiner Arbeit sehr zu Hilfe kam, wenn sein Chef wiedermal völlig überreagierte, sowie auch in losen Flugblättern abtauchen konnte.

So nutzte er diese Wege dem Alltag, wenn er ihn zu erdrücken drohte, wie eine schwere Betonlast von allen Seiten auf ihn einwirkte, zu entkommen. Mit Erfolg bisweilen, bis zum besagten aktuellen Augenblick.

Eigentlich war es ein ganz normaler Tag, hätte er nicht am morgen, bevor er in die volle Strassenbahn einstieg seine Zeitung zu hause liegen lassen. Er konnte auch in nächster Nähe nichts erspähen, was ihm als Schlupfloch dienen hätte können. Er kramte in seinen Taschen, wühlte in seinem Umhängesack und durchstöberte seine Gehirnwindungen nach Ideen. Kein Text weit und breit, bis auf dieses kleine, zerknitterte, weisse Blattpapier. Nichts stand da drauf, Weisse weit und breit. In seiner Verzweiflung fasste er den Entschluss, den er nun bereute. Er holte nochmals tief Luft und versetzte sich zwischen die fehlenden Zeilen auf diesem Blattpapier. Stand zwischen Buchstaben, Interpunktionen und Abschnitten oder Kapiteln aufzuwachen, fiel er weder zwischen Stuhl noch Bank, weder zwischen Namen und Traktat, er fiel ohne es zu merken, dass er fiel. Es war auch egal. Und so wie es im ersten Augenblick, wenn er in die Tiefe der Syntax eintauchte imemr schwarz wurde, wurde es jetzt auch rabenschwarz. Ohne diesen Zustand aber je wieder zu verändern.

Er erwachte nie mehr aus seiner Ohnmacht.