Sonntag, 29. Juni 2014

The coast is always changing (maximo park)

Er nahm den letzten Zahnstocher aus der Schachtel, gab ihr mit seiner Spitze einen letzten Stoss, so dass sie über die Tischkante leise auf den Bodenknallte. Er konnte nun keine Ablenkung brauchen, er wollte sich nur auf das konzentrieren, was vor ihm auf dem Tisch stand, lag und steckte. Jede wintzig kleine Abweichung vom totalen Fokus war da nicht angebracht, auch eine harmlose Schachtel, die - nachdem sie ihren Zweck über mehrere Stunden immer wieder unter Beweis stellen konnte - am Schluss nur noch absolute leere verspürte. Sie war ihm auf diese Weise nur im Weg.

Er stocherte mit dem letzten Stück Holz zwischen seinen Zähnen rum, genau so, wie es der Zweck der Stocher auch vorschrieb, auch wenn er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Befeuchtet und aufgweicht nahm er ihn wieder aus dem Mund und setzte ihn auf seinen vorgesehen Platz. Er stand auf, setzte zwei Schritte zurück und betrachtete sein Werk, das sich über den ganzen Tisch erstreckte.

Er hatte über stunden - in akribischer Kleinstarbeit - ein imaginäres Fort erschaffen, dass sich trotzdem an der Realität orientiert und sich dreidimensional in sein Sichtfeld erhob. Auch wenn jeder Ecken und jede Furche seines Modells irgendeiner bestimmten Idee entsprungen ist, stellte es doch nur ein Produkt seiner Phantasie nache. Und doch war es ein Spiegelbild seines ganzen Lebens, ein Labyrinth aus kleinen Pfählen, das Licht und Luft nicht ausschloss, aber dennnoch demjenigen Schattenwurf sowie Sicht- und Gehbehinderungen bot, der auf die Schnelle von A nach B kommen wollte.

Er stand lange vor seinem Bauwerk und verfolgte jeden einzelnen Gang, jeden Platz, jede Leiter und jedes Türmchen, sowie Schacht nochmals mit seinen Augen. Er entwarf Flucht- und Reisepläne, Fortschritte und Zurückzüge, er machte mit seinen Augen Zug um Zug und stellte dennoch da und dort die Spielfigur zurück an den ursprünglichen Platz, auch wenn sie nur in seinen Gedanken existierte. Er hob die Mundwinkel zu einem Schmunzeln und wendete sich ab.

Er schlief eine Nacht darüber und lebte einen ganzen Tag daran vorbei. Dann stellte er sich am Abend - die Dunkelheit hatte draussen bereits Einzug gehalten - nochmals vor sein Kunstwerk hin, holte aus seiner Tasche einen grossen Stab und schwang diesen plötzlich quer durch seine Welt. Er fegte alles Flach, so dass kein Stab mehr neben einem anderen Stand und keine Mauern mehr die Sicht- und Gehwege durchkreuzten. Zuletzt hob er die leere Schachtel wieder vom Boden auf und legte jedes einzelne Hölzchen zurück in die Leere. Solange, bis die Schachtel wieder ihren Zweck vollen Zweck erfüllen konnte. Alles war wieder am Anfang.

Er sass an den Tisch und nahm das erste Holz aus der Schachtel, schob es zwischen seine Zähne, machte es feucht und steckte es auf seinen neuen Platz. Er machte viele Stunden weiter und steckte Zahnstocher um Zahnstocher bis zum Letzten an seinen vorgesehen Platz in seiner Vorstellung  ...

... er erschuf eine neue Welt für den nächsten Tag.