Freitag, 26. Dezember 2008

Bildergeschichten der Welt (oder "die Brotbäckerin")

Lena hatte Hunger. Lena ass Brot, wenn ein Hungergefühl in ihr aufstieg. Lena machte ihr Brot dabei stets selber. So auch an diese Tag im Jahr, oder besser an diesem in de Jahre gekommenen Tag, ein solcher war es, lockte sie das Gefühl von Hunger, das ihr diesemal wie ein Würgegriff um ihren Hals vorkam, in die Küche.

Sie hatte bereits früher, als kleines Mädchen, ihre Mutter beobachtet, wie diese Mehl, Wasser und Hefe verühre, je nach dem verschiedene Getreidezusätze ergänzte und die Melasse zu einem luftig-weichen Teig knetete. Es war ein Familienüberlieferung, eine alte Mixtur und in den eingeweihten Kreisen als eine perfekte Mischung geltende Rezeptur. Mit der Zeit wurde diese küchliche Voyeur- Situation zwischen Mutter und Lena zum festen Betandteil einer Reihe von Ritualen in Lenas Familie. Die Mutter fertigte den Teig, Lena schaute zu, jedoch nur zu Beginn, später, als auch sie die Rezeptur in sich verarbeitet hatte, wie es in Lenas Familie jede Tochter von der Mutter erlernte, packte sie selber mit an, der fertige Teig wurde als dann, bevor er in den Dunkelheiten des Ofens verschwand, damals waren diese noch grosse und dunkle Kasten, zu verschiedensten Gebilden geformt. Lena hatte Phantasie. Sie lebte beim herstellen von Teig- und späteteren Brotstücken ihre lebhafte Phantasie aus. So verarbeitete sie ihre gesamte Umwelt. Brotmänner und Brotfrauen, Brothunde und Brotbäume, Brotkinder und später Brotlehrer, Brothäuser und Brotspiele, alles was sie in ihrer Welt antraf, verarbeitete sie zu Brotbildern. Ihr liebstes aber war damals ihre Skulptur des Ganzen, die Zusammenfassung ihrer Welt: Eine schlichte runde Kugel Brot, sauber verarbeitet, ohne Ecken und Kanten, ohne Brüche und Spalten, nur einfach eine runde Kugel Brot. Damals war Lena glücklich.

Die Jahre zogen dahin, Lena wurde älter, Lena wurde zur Jugendlichen und Lena wurde irgendwann Erwachsen. Ihre Leidenschaft für das Brotbacken blieb bestehen. Lenas Umwelt aber veränderte sich, neue Gebilde kamen hinzu, immer mehr und weitere Ansichten und Gedanken wurden von Lena verarbeitet. Lena war zur Brotkünstlerin geworden. Sie fertigte nun Brot nicht mehr nur für sich, sie fertige es für viele, für Kinder, für Mütter und Väter, für Männer und Frauen, für alle, die es nötig hatten. Sie hielt sich dabei stehts an das Familienrezpet, an die perfekte Mixtur, die ihr ihre Mutter beigebracht hatte. Ihre Brotstücke aber, so vielseitig sie auch waren, so geprägt sie wirkten, so viel Glück sie bewirkten, wurden immer abstrakter, abartiger in einem gewissen Sinne. Lenas Welt war anders geworden. Glück war in Lenas Welt gewissermassen sinnenteleert.

Weitere Jahre verstrichen, Lenas Mutter, auch der Vater waren bereits seit einiger Zeit an getrennten Orten, aber kaum zwei Monate auseinander, gestorben. Lenas Bruder überlebten sie allerdings, vielmehr noch beschloss der Bruder selber, dass ihn die Eltern überleben sollten, die Mutter ging dabei zu Bruch, der Vater erfuhr erst viel später davon, zu breit war der Graben geworden, zu tief hatten angebliche Freunde und Bekannte, sowie auch unzählige Unbekannte darin gewühlt. Lenas Schwester karrikatierte dabei das perfekte Abbild der Elterlichenbeziehung. Sie nahm die Nachricht allerdings sehr gelassen auf, einerseits gezwungen durch die Lebensituation, in die sie durch all die Jahre gedrängt wurde, gezwungen durch ihre Flucht in ihre eigene Welt, gezwungen durch die Freundschaft zu ihren unauffälligen Freunden, gezwungen durch die Eltern und die erweiterte Umwelt, die sie vor einer weiteren Flucht schützen wollten. Sie lebte nun in einer anderen Welt, mit vielen anderen, die sich selber in die eigen entwickelte Ansicht der Dinge zurückgezogen hatten oder dorthin geflüchtet waren. Das grosse Haus am Stadtrand mit dem weitauslaufenden Park war somit ein kleines Universum verschiedener Welten mitten in einer Welt, die sich gewandelt hatte, als wäre sie, nach Lenas Betrachtungen, ein Abbild ihrer Familie, oder eher den umgekehrten Weg herum. Glück verlor darin in ihren Augen jegliche Grundlage zur Definition.

Während Lenas Umwelt ihre eigenen Geschichten schrieb, arbeitete auch Lena an ihrere Erzählung. Je mehr sich die Umwelt zu dem veränderte, was sie im jeweiligen Augenblick in Lenas Geschichte war, desto mehr verkroch sie sich in ihrer Arbeit. Sie reiste viel und sie backte. Sie backte Brot für alle, die es wollten, sie backte überall auf der Welt wos nötig war, sie backte dabei auch für alle, die sich ihr anvertrauten, ohne das dies je eine zwingende Vorausetzung wurde, aber sie verarbeitete weiterhin in ihren Brotkünsten ihre Umwelt und zusätzlich immer mehr auch die Umwelt der verschiedenen, von all den Leuten geschriebenen Geschichten. Sie fertigte nun nicht nur Brot, sondern gestaltete Bilder, Bildergeschichten der Welt.

Lena war alt geworden. Lena hatte viel gesehen von der Welt. Und mit ihrer Betrachtung dessen, was die Menscheit alls grösstes allgmeines Gut zu verstehen schien, veränderten sich bis hin zum Schluss ihre Abbilder. Mit der Zeit fing sie darüberhinaus an, an der Mixtur zu rütteln, zu erschüttert war ihre Vorstellung eines heilen Ganzen. Sie änderte die Rezeptur. Sie änderte sie nicht schlagartig, sie änderte sie langsam über die Zeit, sie änderte sie mit der Geschichte. So liess sie bald immer weniger Wasser zumischen, so blieb das Brot immer länger im Backofen, so führte sie der spröden Teigmelasse immer mehr Wärme zu und so liess sie immer mehr Getreidezusätze weg. Schliesslich war Lenas Teigmasse nicht mehr formbar, und es war für andere auch nicht mehr essbar. Das Glück hatte Lena alles abverlangt. Die Brotbilder waren nur noch kleine Häufchen des Elends.

Es war an einem Dienstag im Dezember, als man Lena liegend in der Küche fand. Ruhig und regos, mit Mehl in ihrem Gesicht und Haar. Das Leben hatte sie verlassen. Sie hatte den letzten Satz ihre Geschichte nicht zu Ende gebracht. Der Backofen lief und darin war ein Kugel, ihre letzte gefertige Kugel, ihr letztes Abbild der Welt, die in Anbetrach der Hitze und Konstitution, bei erster Berührung zu Brotstaub zerfiel.

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