Donnerstag, 19. Februar 2009

Ein offenes Buch

Belesenheit war nicht seine Stärke. Lesen war eine Last für ihn, eines der kleinen Übel die so schwer werden können, dass man unter ihrem Gewicht zu ersticken droht, so lange, bis was klein definiert war, nicht mehr dieser Beschreibung entspricht. Er konnte lesen, das war nicht sein Problem, er wollte es aber nicht. Es interessierte ihn in keinster Weise, was über zig-100 Seiten zwischen zwei Dickeren und Resteren, meist Kartonen, geschrieben stand. Syntaktisches war im ein Mühsal, inhaltliche Verstrickungen waren ihm Fremd und ein roter Faden interessierte ihn genau so wenig beim Nähen, wie beim Schmöckern in einem Wälzer. Er las einfach nicht gern.

Eines Tages jedoch, es war kalt daraussen, die Sonne konnte sich nur schwer durch die graue Suppe des winterlichen Morgennebels kämpfen und ihren ganzen Glanz erstrahlen lassen, an jenem Tag also, ereignete sich etwas Unvorhersehbares. Er, wie immer, ohne nur einen Blick in eine Zeitung zu werfen, den heissen Kaffee aus dem Pappbecher schlürfend, seine andere Hand zitternd in die Jackentasche gesteckt, war unterwegs zur Arbeit, als ihn ein Mann am Wegesrand, der in regelmässigen Abständen diesen Platz säumte und eine Zeitschrift anpries, die ihn möglichst über die nächsten Wochen bringen sollte, wie eigentlich jedes Mal, wenn er ihn passierte, mit einer, meist auf den zweiten Hinhörer, recht philosophischen Bezeichnung, ansprach. Dieses Mal war es sogar einen ganzen Satz, der ihn aufhorchen liess, nur wenige Worte zwar, trotzdem schallten sie in seinen Ohrmuscheln nach, als wäre ein Echo in eine Endlosschleifenfelswand geraten, als hätte eine Platte einen so tiefen Kratzer, dass man den Plattenspielerarm nur sehr schwerlich daraus befreien konnte oder als würde sich der Schall aus lauter Hilflosigkeit im Kreis drehen: "Sie sind ein offenes Buch!".

"... ein offenes Buch"... "...ein offenes Buch". Er wiederholte den Teil des Satzes, der ihn am meisten in Staunen versetzte immer und immer wieder. Und er begann seine Gedanken zu ordnen, er fing an den Satz begreifen zu wollen, er wollte das Ausmass des Satzes für seine Persönlichkeit erschliessen, fühlte er sich doch direkt angesprochen, obwohl ihm solche Bezeichnungen von dieser Seite ja oft angeheftet wurden, trotzdem, dieses Mal war es etwas anders: Er wurde als Buch bezeichnet. Als Buch und somit als das, was ihn bisher eigentlich überhaupt nicht interessierte, als das, was ihn in seinem bisherigen Leben so kalt lies, als etwas, was ihm unfreiwillig aufgezwungen wurde, anstatt dass er es freiwillig verschlungen hätte. Was hiess das nun für ihn? Was bedeutete das für sein Leben? Was bedeutete er demnach für das Leben von anderen? Er war von einem Augenblick zum nächsten verunsichert. Langsam, aber stetig, schritt er der Strasse entlang.

Seine Blicke schweiften umher, unsicher, verhüllt war sein Blick, er beobachtete die anderen. Er wollte sehen, wie sie auf ihn reagieren, war sich unsicher, was sie aus ihm, dem offenen Buch, lesen, war erschrocken über diese Erkenntnis und er hatte Angst. Zuerst war ihm diese Beklommenheit nicht gänzlich klar, zu verschwommen waren die Gründe, die zum Zuschnüren seiner Kehle führten, zu rasend und chaotisch seine Gedanken, später aber, aufgrund seines langsamen Ganges und rythmischen Atmens, beruhigte er sich wieder. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er, der keine Erfahrungen hatte mit Lesen, er der sich nie etwas Geschriebenes zu gemüte führte, wurden von anderen gelesen, war ein Inhalt im Buch des Lebens, DER Inhalt, seines Lebens und, und das war das Schlimmste, er verstand ihn nicht.

Er hatte nie gelernt zwischen den Zeilen zu lesen.

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